zurück

Schwarz-Weiß und Farbe – von einer neuen Welt in einer alten

Textbeitrag zur Ausstellung „Kunst Fühlen Wir. Alle. Zuammen.“ Kunsthalle Bremen

Um Kunst gemeinsam zu fühlen, muss man wohl das Abstrakte, Übergeordnete, vielleicht eher Unfassbare, etwas konkreter werden lassen und explizit ansprechen, wie bestimmte Gefühle zu Kunst und vielleicht wieder zu einem Gefühl werden können. Für meine eigene Kunst ist der Ausgangspunkt immer die Auseinandersetzung mit meiner Lebensrealität.

Mit einer Querschnittslähmung zu leben heißt viel mehr, als nicht laufen zu können und auf einen Rollstuhl angewiesen zu sein. Es bedeutet, mit einem Körper zu leben, der nur dem Augenschein nach und ohne Weiteres vergleichbar mit einem nicht behinderten Körper ist – der nur sitzt und ansonsten recht ähnlich erscheint. Dasselbe gilt natürlich auch für andere Behinderungen, auch für solche, die unsichtbar sind. Mit einer Behinderung zu leben ist nicht nur eine Herausforderung oder ein Schicksal, das gemeistert werden muss.

In meinem Fall bedeutet es, täglich um meine Teilhabe an der Gesellschaft und die Freiheit, tun und lassen zu können, was ich möchte, kämpfen zu müssen, indem ich die Kontrolle über diesen Körper zurückgewinne und eine völlig neue Beziehung – im Vergleich zur vorherigen und über sehr viele Jahre gewachsenen – zu ihm aufbaue. Denn beides entgleitet mit der Zäsur eines folgenschweren Unfalls, der eine dauerhafte Behinderung wie diese nach sich zieht. Plötzlich ist da kein spürbarer Harndrang mehr: Darmlähmung, Spastiken – willkürliche Zuckungen der gelähmten Areale des Körpers –, Impotenz, Angst vor Dekubiti (Druckstellen, die durch Dauerbelastung auftreten). Im Verlauf mehrerer Jahre kommen Schmerzen in Gelenken und im Rücken durch Abnutzung und asymmetrische Belastung hinzu. Psychischer Druck: das Herabsehen der Mitmenschen, Ausgeschlossen-Sein aus einem Umfeld, das man gewohnt war; Barrieren: Treppen, Freunde, die in der dritten Etage wohnen; verminderte Belastbarkeit; das Gefühl einer ständigen Bedrohung durch Armut und Einsamkeit; Abhängigkeit von der Versorgung mit Hilfsmitteln und medizinischem Material sowie vom guten Willen der dafür zuständigen Stellen. Die Folge: Entfremdung. Die Welt erscheint in einer ungewohnten Perspektive. Was bisher selbstverständlich war, rückt in unerreichbare Ferne. Unberührte Natur ist kein reiner Genuss mehr – problemlos kann man sich mit einer körperlichen Behinderung in ihr nur schwer bewegen, mit einem Rollstuhl oft gar nicht (auch Krücken eignen sich an einem Sandstrand nicht besonders gut als Gehhilfe). Es geht also darum eine neue Welt zu entdecken, zu erobern, ja sie zu erschaffen, ohne dabei aber die alte zu verlassen.

Auf Dauer ist dies allein in einer von Menschen geschaffenen Umwelt möglich – und dort auch nur in Bereichen, in denen diese besondere körperliche Situation mitgedacht wurde: in solchen mit WCs, Aufzügen, Rampen, Ermäßigungen und im Allgemeinen reservierten Räumen für behinderungsbedingte Bedarfe wie etwa Parkplätze. Materialien wie Folien und Kunststoffe sind plötzlich nicht mehr (in erster Linie) Umweltverschmutzung oder potenzielles Mikroplastik – sie sind Garant meiner Mobilität und machen mein Leben und Überleben möglich. Spritzen, Medikamente und Hilfsmittel sind kein Interieur von Krankenhäusern mehr. Sie werden auf eine sehr intime Art Teil meiner täglichen körperlichen Routine und führen mir täglich die Verletzbarkeit und Zerbrechlichkeit meiner körperlichen Existenz mit unnachgiebiger Deutlichkeit vor Augen.

Dieses Ineinandergreifen von Künstlichkeit und meinem ursprünglichen, vermeintlich natürlichem Leben, von sterilen Materialien und meinem menschlichen Körper, von der Versorgung durch ein derart komplexes Lieferkettensystem und einem völlig neuen Erleben des bislang Bekannten – jetzt vorerst aber völlig Unbekannten – hat mich von Beginn an fasziniert. Es ist schwierig zu sagen, was dieses neue Leben bedeutet und wie es sich anfühlt; wie sich dieser „neue“ Körper anfühlt und wie sich die psychischen Auswirkungen beschreiben lassen.

Mit Worten lässt sich ab einem bestimmten Punkt weniger fassen, als man denkt. Auf Fragen zu meiner Situation weiß ich oft keine adäquate Antwort. Wir wissen auch nicht, wie es ist, eine Fledermaus zu sein oder was Farbe ist, wenn wir nur Schwarz-Weiß sehen könnten. Selbst wenn wir alle verfügbaren Tatsachen kennen würden – alle Fakten –, wüssten wir nicht, was Farbe ist. Es fehlt die Vergleichbarkeit und das Erlebnis als Erkenntnisgewinn. Was möglich ist, ist die Übersetzung in Kunst: eine Sprache, die nicht auf eine Sinneswahrnehmung allein angewiesen ist – nicht allein auf Klang oder Worte oder gegenständliche Bilder –, mit der wir aber gemeinsam fühlen können, wenn wir uns auf sie und ihre Möglichkeiten einlassen.

Eric Beier,
Dresden, Juli 2025

Freiheit, und wie wir mit Dingen von ihr erzählen

Die Objekte, mit denen wir uns Freiheit erringen oder erkaufen, werden stets zu Satussymbolen. Egal ob es das Auto, das Flugzeug, das teure Outfit, die Armbanduhr oder irgendein anderes Mobiliar ist, ein solches Statussymbol will immer auch davon erzählen wie unabhängig und in diesem Sinne frei die Besitzer:in ist. Das ist uns wichtig und es stärkt unser positives Selbstbild, wenn wir eines solchen Gegenstandes habhaft werden können. Es erzählt von der Freiheit, der Wahlmöglichkeit ihrer Träger:in und damit von genau dem Freiheitsbegriff, der in unserer kapitalistisch geprägten Gesellschaft propagiert und akzeptiert ist. Dabei geht es nicht nur darum zu zeigen welches Preisniveau man mit seinen finanziellen Mitteln wählen kann, es geht auch darum, wie komfortabel und schnell man sich bewegen kann. Das Bild der Freiheit ist immer mit einem offenen und weiten Horizont verbunden, einem weiten offenen Raum, der ohne Barrieren und Grenzen für uns betretbar ist. Es ist ein Sehnsuchtsbild und wird oft mit Waren und Dienstleistungen zu epischen Bildern verarbeitet, die uns ein Produkt anpreisen, welches verspricht, genau mit dieser Freiheit - einer Freiheit, die mehr einer Vorstellung entspricht als einer erreichbaren Realität - in Berührung zu kommen oder sie tatsächlich besitzen zu können. Selbst eine Prothese, deren Wesen eigentlich der Ausgleich eines körperlichen Defizits ist, wird in der Logik des Marktes unversehens zum Aushängeschild der Fähigkeit seiner Träger:in, schnell, souverän, autonom und damit frei zu sein von offensichtlichen Zwängen oder Grenzen. Doch man ahnt, dass hier ein unheimliches Fahrwasser droht, bedenkt man, wohin eine sehr begrenzte Wahlmöglichkeit, durch fehlende finanzielle Mittel führt... . Ist es dann immer noch die futuristische, funktionale und sündhaft teure HighTech-Carbonfeder? Oder eine Art Ikeavariante? Ähnliche Gedankengänge beim Anblick von Prothesen beschreibt auch Karin Harrasser mit folgenden Worten in ihrem Buch „Prothesen, Figuren einer lädierten Moderne“:

„Während jedoch {....} der Fetischcharakter der Ware die reale Unterschiedlichkeit der Dinge und der Menschen zum Verschwinden bringt, mit einem Illusionstrick das Verschiedene gleich erscheinen lässt,

bleibt mit der Prothese der Verweischarakter (die Prothese bleibt stetes ein Nachträgliches, das auf den Verlust des Ursprünglichen verweist) und die Ähnlichkeitsbeziehung intakt. Die Prothese ist also zum einen als Ware ein Fetisch (in dem Maße, wie andere Waren es auch sind) Durch ihre Ähnlichkeit mit menschlichen Gliedern insinuiert sie jedoch zum anderen das Skandalon des „ungleichen“ Werts von Körpern in der kapitalistischen Marktwirtschaft. Diese behandelt den Körper nicht als singulären Urgrund des Daseins, sondern als Produktionsmittel; nicht als einzigartiges, sensibles Gewordenes, sondern als eine im Idealfall berechenbare Ressource (häufig im Bild des Automaten ausgestellt). Aufgrund der Operation des Ersetzens des Körperteils durch ein Artefakt wird der funktionale Charakter des menschlichen Körpers innerhalb der kapitalistisch-konsumistischen Logik augenfällig. Was also in der Materialität der Prothese angelegt ist (der Verweis auf einen inäquivalenten Tausch), spitz sich mit der Entstehung der Warenwelt und des industrialisierten Körpers im 19. Jahrhundert zu einem Skandalon zu: Die Austauschbarkeit von organischem Glied und Artefakt wird zum Spiegel marktwirtschaftlicher Tauschbeziehungen.“

K. Harrasser (2016) „Prothesen, Figuren einer lädierten Moderne“ Vorwerk 8, Berlin

Und so stehen plötzlich ganz praktisch gedachte und notwendige Ersatzobjekte, Gehhilfen oder ähnliches, im Fachjargon „Rehamittel“ genannt, in einer komplexen Logik gesellschaftlicher Zusammenhänge. Diese berühert nicht nur soziologische sondern auch wirtschaftliche Zwänge, und kommuniziert mit ihrer Erscheinung den vermeintlichen Wert oder die gesellschaftliche Stellung seines Trägers, respektive Besitzers. Damit haftet ihm niemals der Nimbus der ultimativen Freiheit an sondern, ähnlich wie in der Euphemismustretmühle, immer auch das genaue Gegenteil.

Eric Beier,
Dresden, Juli 2025

Das Verschwinden des „Krüppels“ am Anfang des 21. Jahrhunderts

Egal ob bei Pieter Bruegel, Diego Velasquesz oder bei Otto Dix, der Krüppel* scheint für einige Künstler interessant gewesen zu sein oder die Kunstschaffende war selbst einer, wie etwa Frieda Kahlo. Er erscheint als ein Mitglied der Gesellschaft oder gar als zentrales Motiv. Ganz klar: anatomische Andersartigkeit ist ein, heute würde man wohl sagen: „Eyecatcher“. Bis weilen war wohl auch das Leiden desselben, Motor des schöpferischen Ausdrucks. Irgendwie kam es dann aber zum Verschwinden des „Krüppels“. Zumindest der Begriff war weg. Was ist aus ihm geworden? Der so Beschriebene ist ja noch da. Meist auf der Straße oder als bekannter Nachbar. Als mit normal gearteten Menschen liiert oder allein, als autonom Agierenden. Dann meist gut versorgt mit mechanischen Rollstühlen, industriell gefertigten Gehhilfen, Orthesen oder einer robotischen Erweiterung abgetrennter Gliedmaßen. Er hatte sich verwandelt. Zunächst wurde nach einem neuen Titel für ihn gesucht. Das ging schleichend, kriechend, oder humpelnd, wenn man so will. (Was kümmert die Political Correctness eigentlich die Euphemismustretmühle?) Aus ihm wurde erst mal ein „Versehrter“, später auch ein „Invalide“ und damit war die Sache sachlicher. Doch was blieb denn anderes übrig als der Krüppel unlieb wurde, die Nazis sogar über „unwertes Leben“ oder „Sozialschmarotzertum“ schwadronierten, wenn es um ihn ging. Und das obwohl sie selbst gar fleißig diese Menschen im Kriege produzierten!? Die Misere schien geklärt. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert, als schließlich der Behinderte geboren war. (bisweilen war dies ja gar keine Metapher, sondern passierte ganz unfreiwillig, nach der Einnahme des Medikaments Contergan auf Empfehlung des Hausarztes etwa) Und trotzdem scheint auch das nicht treffend. Denn es stellt sich die Frage: wodurch eigentlich? Und anschließend, die viel schmerzlichere Frage: durch wen wird er „behindert“? Und damit wir wieder fleißig in die Tretmühle treten dürfen, wurde nach der nächsten und übernächsten Ableitung des unförmigen und scheinbar unzutreffenden Begriffs gesucht, wobei mir persönlich und ganz im Ernst „phyically challanged“, „physisch herausgefordert“, richtig gut gefiel. Das ist doch eine reflexive Glanzleistung, in Bezug auf eine Wortsuche die krampfhaft nach einer pässlichen Bezeichnung für etwas ganz und gar Unpässliches sucht. Hervorragend! Da haben wir die Lösung. So sieht sie aus. Objektiver geht es nicht. Obwohl. Bei genauerer Überlegung und vor allem intensivem Erleben, realisiert man die psychische Herausforderung des Krüppeltums, a.k.a. Invalidentum - respektive des Lebens als „physisch herausgefordert“. Doch das ist eine andere Geschichte und muss hier keine Erweiterung für ein ohnehin weitschweifiges Thema sein. Vorerst bleibt es aber bei „behindert“ was mir auch mein staatlich beglaubigter Ausweis bescheinigt. Dieses Wort, ein Wort irgendwo zwischen Schimpfwort und der Bezeichnung für einen Sonderstatus, zwischen Herausforderung und Belastung, hängt an mir, als wäre ich in Hundescheiße getreten. Was soll ich machen? Gespannt schielen manche auf die technologische Entwicklung. Und obwohl man ahnt, dass es zu Lebzeiten keine praktikable Lösung geben wird, bei der auch eine Querschnittslähmung mehr oder weniger behoben werden kann, hören wir aus einer ganz anderen Ecke menschlicher Überlegungen mit unschuldiger Begeisterung, vom CYBORG. Ein Begriff aus der Siencefiction-Literatur und der Raumfahrt der 60ger und 70ger, der sich zum Dreh- und Angelpunkt kulturtheoretischer und philosophischer Abhandlungen gemausert hat. Ein Mischwort aus dem englischen cybernetic, zu deutsch kybernetisch und dem im Englischen und Deutschen mit denselben drei Buchstaben beginnenden organism, dem Organismus. Wenn wir uns die Möglichkeiten der modernen Prothetik ansehen und uns vor Augen halten, dass wir als Menschen generell Wesen, sind die (mittlerweile) in völliger Symbiose mit der uns umgebenden und von uns geschaffenen Technik leben, auf die wir uns verlassen, die unsere Leben erleichtert, bisweilen erhält oder erst ermöglicht, mindesten aber strukturiert, dann fällt es sehr schwer, eine klare Linie zwischen Cyborg und Norm-Mensch zu ziehen.

Mehr noch: der Cyborg ist nicht nur ein Problemfeld der Integration von Technologie, er eröffnet Möglichkeiten. So könnte mit der ständig weiter entwickelten technologischen Möglichkeit, die den menschlichen Körper teilweise oder Stück für Stück ersetzt, die patriarchal geprägte Gesellschaft ein ihr eingeschriebenes Problem lösen. Der Körper wäre als Grundlage für soziale Konflikte, die in der Genderfrage wurzeln, obsolet. Geschlecht wäre wählbar. Es wäre sogar wählbar, welches persönliche Potenzial entwickelt werden soll, wer sich wie der Fortpflanzung widmet, wer wie welche Körperteile aussehen ließe und so weiter. Die posthumane Lebensform. Für die meisten sicher eine ambivalente Vorstellung, für viele eine geradezu apokalyptische Vision. Aber sein wir doch mal ehrlich: Der Cyborg ist längst allgegenwärtige Realität. Er sieht nicht so aus, wie in Sciencefiction-Filmen. Er ist kein Roboter-Mensch-Mischwesen. Noch nicht! Aber wir sind derart technikaffin, dass wir sie immer weiter in unser Leben holen und näher und näher an unseren Körper heranlassen. (abgesehen von denen, die schon längst auf Prothesen, Cochlea- oder Retina-Implantate, Herzschrittmacher, Dialysemaschinen, etc. angewiesen sind). Oder hat noch niemand mit dem Laptop auf der Couch gesessen, das Handy auf dem Küchentisch gelegt und beim Essen eine Nachricht gelesen, sich ausschließlich auf das Navi verlassen, wurde im Krankenhaus mit modernsten Verfahren operiert, die noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar gewesen wären, die Vitaldaten auf der Smartwatch gecheckt, eine Liste, die sich ständig erweitert. Nein. Schon im Supermarkt und erst recht zu Hause sind wir umgeben von Maschinen oder ihren Produkten, ohne die wir Krüppel wären. Sich selbst versorgen? Utopie. Als Jäger und Sammler leben? Eine abstruse Vorstellung. Wie vor 200 Jahren? Wie im 15. Jahrhundert? Nicht wirklich lebenswert. Gefährlich. Romantisch. Vor allem aus der Perspektive westlicher Gesellschaften. Die Behinderten werden nicht verschwinden, aber sie werden Cyborgs, wie wir sie aus Sciencefiction-Filmen kennen, immer ähnlicher werden. Zum Wohle aller? Vielleicht. Nicht nur Donna Haraways „A Cyborg Manifesto“ aus dem Jahre 1985 regt eine, immer wieder, mit neuen Entwicklungen und Diskussionsbeiträgen geführte Debatte an. Wie sich der Mensch verändert, welche Möglichkeiten und welche Aufgaben er auf diesem Weg zu bewältigen hat, scheint noch nicht abschließend geklärt. Ob es sich lohnt, werden wir zwangsläufig herausfinden. Wir werden sehen, ob wir die Ersetzbarkeit unseres Körpers letzten Endes als bedrohliches Szenario empfinden oder sie eine, für unseren Geist, kaum spürbare Konsequenz sein wird. Welchen künstlerischen Ausdruck wir für diese Fiktion und diese beginnende Realität finden, ist mehr als spannend oder inspirierend. Lee Bul´s Skulpturen und Installationen zum Beispiel setzen, anders als die Aktionen von Orlan und Stelarc, bei popkulturellen Vorstellungen an, und entführen uns in eine faszinierende, teilweise beängstigende, weil unbekannte Welt. Die künstlerische Auseinandersetzung mit diesen Themen, ist wohl eine der anstrengendsten, und dies ganz sicher deshalb, weil wir durch sie gezwungen werden, uns selbst schonungslos zu befragen. Vor allem unsere Angst vor dem Tod, und unsere Angst vor dem Leben als Mensch. Denn so richtig bejahen wollen wir eine Mutation zum Cyborg nicht, aber dem Verschwinden des Krüppels wollen wir gern zustimmen. Schließlich ist die Vorstellung irgendwie zum Krüppel zu werden etwas weit aus bedrohlicheres. Nicht wahr?

Eric Beier,
Dresden, September 2020

* Das Wort Krüppel, ursprünglich aus dem mittelniederdeutschen, für verdreht, gekrümmt oder kriechend, bezeichnete wertfrei einen Menschen mit physiologischer Einschränkung. Noch bis in die 30ger und 40ger Jahre des letzten Jahrhunderts war es gebräuchlich und fand Verwendung in der Namensgebung von öffentlichen Institutionen oder Organisationen, wie etwa der „Krüppelfürsorge“ oder der „Bekämpfung des Krüppeltums“, wobei es hier vor allem um orthopädische Fürsorge ging.

Bewusstseinserweiterung

Wer glaubt, in die Tiefen seines Inneren und seiner Vergangenheit eintauschen zu müssen um Eric Beiers Bilder zu verstehen, liegt falsch. Wer denkt, selbstverständlich zu wissen, warum er macht was er macht, liegt ebenfalls daneben. Aber selbst wenn man versucht sich unbeirrt auf seine Arbeiten einzulassen, stößt man immer wieder an Grenzen. Nicht an seine, sondern an die eigenen.
Eric Beier steht scharfen Fragen und Kritik offen gegenüber. Hochmut und unangebrachte Rücksichtnahme nutzt er aus für Konfrontation. Es sind exakt diese Situationen des Aufeinandertreffens, die sein starkes Bedürfnis nach einer neu codierten Wahrnehmung entfachen. Ähnlich einer Grammatik, die wie das setzen von Punkt und Komma automatisch unterbewusst funktioniert und manifestierte Fremdartigkeit und Unbehagen auslöscht.

Seine großformatigen Malereien sind hauptsächlich Gruppen- oder Einzelportraits - ausgelassene Situationen am Stand, beim Sport oder anderen Freizeitaktivitäten. Die Situationen sind offensichtlich, genauso wie die abgebildeten Gegenstände. Was nicht zu erkennen ist, sind die Gesichter. Damit wird offenbart, was der „normale Mensch“ sieht, wenn er sein Gegenüber als „unnormal“, als Mensch mit Behinderungen, wahrnimmt. Ein Umstand, der in seiner Realität befremdliche und unbehagliche Gefühle auslöst. Eine Prothese oder ein Rollstuhl impliziert ein Hindernis und die Persönlichkeit, das Gesicht, bekommt Rang Zwei. Der gesunde Mensch hat im Moment der ersten Begegnung sowieso sein Urteil gefällt, was da mit großer Wahrscheinlichkeit lauten mag: Scheiße, du tust mir leid. Hilfe, wie geh ich damit um? Abstand“.
Ein Rollstuhl grenzt aus und schirmt ab. Er wird zu einem Label, das nicht abzuschneiden ist, obwohl für alle Menschen die gleichen Regeln und Gesetze gelten.

Mit seinen Gemälden hinterfragt Eric Beier scharf die vorherrschende Distanz zwischen zwei Gesellschaften. Dass diese Distanz jedem absurd und unwirklich erscheint ist klar, aber wir alle gliedern uns bewusst und unbewusst in diese Zwei-Klassen-Gesellschaft.
Und warum? Weil uns keiner sagt, wies richtig geht.

Seine aktuellen Arbeiten zeigen Schriftzeichen, die uns fremd sind auf Objekten, die wir kennen. Fremdartige Hieroglyphen reihen sich auf Leinwänden eng aneinander oder pressen sich in Tonplatten. Es sind herkömmliche und traditionelle Reproduktionsmedien, deren Inhalte sich den Betrachtenden nicht erschließen wollen. Die Interpretation dieser Arbeiten nimmt immer komplexere Ausmaße an. Es hilft, sie als serielle Experimente zu betrachten und dabei den Blick auf eine Arbeit zu richten, die zur Zeit mitten im Entstehungsprozess steckt. Eric Beier konstruiert einen übergroßer Zauberwürfel frei nach Rubik, welcher seiner Einzelteile durch Magneten hält. Darauf sind unmissverständliche Piktogramme abgebildet. Neben den genderspezifischen Symbolen für Frau und Mann reiht das Icon für eine behindertengerechte Umgebung ein. Uns allen bekannt aus diversen Toilettensituationen. „Wie radikal müsste man Integration oder Inklusion denken um zu verstehen?“, fragte mich Eric Beier bei dem Versuch mir seine abstrakten Gedanken zu erschließen und trifft damit ins Schwarze. Die kleinste gemeinsame Schnittmenge unserer Wahrnehmung von körperlichen Unterschieden drückt sich sehr gut in Piktogrammen aus. Sie verleihen der skurrilen gesellschaftlichen Kluft zwischen Abnormität und Normalität einen sinnlich erfahrbaren Ausdruck.

Lucie Klysch, Kunsthistorikerin
Dresden, Februar 2018

Eric Beier: Europa, Tricolore, Cyborg-Codex-ALDI (2017/19)

„Europa“, „Tricolore“ und „Cyborg-Codex-ALDI“ sind Teil der im Herbst 2017 von Beier begonnen Werkserie Cyborg Playground. Den konzeptuellen Ausgangspunkt bilden drei standardisierte Piktogramme, die sich auf das Geschlecht oder den Behindertenstatus eines Menschen beziehen: Mann, Frau und Rollstuhlfahrer*in. Beier zerlegt die ordnenden Symbole in ihre Einzelteile und setzt sie in Verwendung unterschiedlicher Techniken, Materialien und Dispositive neu zusammen. Resultat ist ein hieroglyphenartiges Zeichensystem, das, aus 29 Elementen bestehend, sowohl das lateinische Alphabet in neufigurierter Form als auch die drei ursprünglichen Piktogramme – ersetzt durch Fragezeichen, Punkt und Komma – enthält.
Mit dem Titel der Werkserie stellt Beier einen Bezug zu dem erstmalig 1985 erschienen „A Cyborg Manifesto“ von Donna Haraway 1 her. In ihrem Aufsatz setzt sich die Autorin mit gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen der Verschmelzung von Organismen und Maschinen im biokybernetischen Zeitalter auseinander. Beier konzentriert sich auf das Piktogramm des*der Rollstuhlfahrer*in, das stellvertretend für verschiedene Formen körperlicher Behinderungen steht und eine Art Fusion von Mensch und technischem Apparat darstellt. Obwohl die medizinische Versorgung von körperlich Eingeschränkten heute oft nicht weniger bindend ist als die allgemeine Abhängigkeit von Zulieferern wie dem Lebensmittelvertreiber, dem Energieversorger oder dem Handyanbieter, nehmen behinderte Menschen nach wie vor oft einen Sonderstatus ein.
Indem Beier die Fragmente von Mann, Frau und Rollstuhlfahrer*in verbindet, setzt er sie miteinander gleich und postuliert die gesellschaftliche Gemachtheit fixer Menschentypen. Die Willkürlichkeit seines Zeichensystems überträgt sich im Vergleich auch auf die standardisierten Piktogramme: Warum müssen es gerade Geschlecht, Behinderung oder andere gesellschaftlich stigmatisierte Körpermerkmale sein, die einen Menschen definieren?

“There is no drive in cyborgs to produce total theory, but there is an intimate experience of boundaries, their construction and deconstruction. There is a myth system waiting to become a political language to ground one way of looking at science and technology and challenging the informatics of domination - in order to act potently.” 2

Aus Beiers Beschäftigung mit dem technischen Fortschritt, der Reproduzierbarkeit und Objektivierung des Menschen geht eine soziale Utopie hervor. Auf abstrakte Weise zeigen seine Werke die Überwindung sozialer Grenzen im Sinne der Integration und Gemeinschaft. Mann, Frau und Rollstuhlfahrer*in werden in dekonstruierter Form zu etwas Neuartigem, das noch keine Geschichte und keine Ecke zum Abstellen besitzt. In diesen Prozess lassen sich gedanklich andere häufig diskriminierte Gruppen, wie People of Color oder LGBTQ-Menschen, einschließen. Beier verurteilt prinzipiell die Separation von Menschen aufgrund ihrer physischen Merkmale, fordert einen lebendigen Dialog und skizziert ein Weltbild, das sich auf Ebenbürtigkeit stützt.

Über das „A Cyborg-Manifesto“ hinaus beziehen sich „Europa“, „Tricolore“ und „Cyborg-Codex-ALDI“ auf ein konkretes kulturhistorisches Objekt, den sogenannten Codex Dresdensis. Anders als der Titel womöglich heute suggeriert, handelt es sich dabei um einen vermutlich aus dem 13. Jahrhundert stammenden Maya-Kalender, dessen Provenienz in Dresden auf die spanische Conquista Lateinamerikas im 16. Jahrhundert zurückgeht. Als eines von wenigen Schriftstücken überlebte der Kalender die öffentliche Verbrennung indigener Literatur, Kunst- und Kultobjekte unter Anordnung des Bischofs Diego da Landas 1562 in Yucatán (Mexiko). Während die indigene Bevölkerung Lateinamerikas massenweise unterdrückt, ausgebeutet und ermordet wurde, gelangte der Kalender über Umwege nach Dresden, wo er sich heute im Buchmuseum der Sächsischen Landesbibliothek, Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) befindet. Beier greift die Optik des Codex auf und gleicht sein Zeichensystem der im zweiten Jahrhundert v. Chr. entstandenen Maya-Schrift an. Die Einzelteile von Mann, Frau und Rollstuhlfahrer*in ersetzen die Darstellungen von Gottheiten und Anleitungen zu religiösen Ritualen.

Die Entschlüsselung Beiers Arbeiten führt zu Preislisten von Produkten, die der Lebensmittel-Discounter ALDI aus Lateinamerika bezieht: Schokolade, Kaffee, Avocado, Zucker usw. Der Künstler konfrontiert den*die Betrachter*in mit der gegenwärtigen, durch den Handel gepräg-ten Beziehung von Europa und Lateinamerika. Wie schon in der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Mensch und Technik, erkennt er hier eine Form der Abhängigkeit. Ohne Zulie-ferer aus Mexiko, Kolumbien oder Guatemala könnte die europäische Bevölkerung ihren ge-wohnten Lebensstandard nicht aufrechterhalten. Dass für diese Art der ökonomischen Zu-sammenarbeit ganze Regionen und Völker Lateinamerikas ausgebeutet werden, ist im Ange-sicht der im Supermarkt aufgereihten Produkte dort nur schwer erkennbar.

Die Fusion von Organismen – Mensch, Maschine, Staat – lässt Gesellschaftsstrukturen im-mer komplexer und unübersichtlicher erscheinen. Nicht von Diskriminierung betroffene Men-schen vergessen oder ignorieren die alltäglichen Schwierigkeiten von Minderheiten. Beier er-innert daran, dass die Gesellschaft aus einem einzigen zusammenhängendem Gefüge be-steht, in dem jede*r entweder zur Aufrechterhaltung oder zur Veränderung der bestehenden Verhältnisse beiträgt.

Luise von Nobbe

1Das Original erschien als Haraway, Donna: “Manifesto for Cyborgs. Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980's”, in: Socialist Review 80 (1985), S. 65-108.
2Ebd., S. 98.

„This ability“ – Behinderung und Fähigkeit

Matthew Barney zeigt in seinem Film „Drawing Restrain“ wie er sich Hindernisse konstruiert, um gegen sie ankämpfend Zeichnungen zu generieren die eine starke, sehr eigene Intensität entwickeln. So sind auch meine Arbeiten zunächst aus dieser Perspektive zu betrachten, selbst wenn mein „Hindernis“ nicht frei gewählt ist. Solche Hindernisse, oder auch Behinderungen, fordern dazu auf, überwunden zu werden. Matthew Barney weist explizit darauf hin, dass eine Überwindung von Hindernissen uns Fähigkeiten entwickeln lässt. Für mich sind solche Fähigkeiten eine sensible Wahrnehmung der Realität, die mich umgibt, für die Körpersprache meiner Mitmenschen und das Bewusstsein für Barrieren im Raum, einem Raum der auch unser Denken und Fühlen spiegelt, da er eng verknüpft ist mit unserer geistigen Welt. Auch stellt sich mir die Frage, welche Auswirkungen auf die Körpersprache eine dem Körper eigene Unfähigkeit hat. Zu welcher unbewussten Annahme verleitet die beiläufige Beobachtung, dass unser Gegenüber offensichtlich gelähmt ist und zum Sitzen in einem Rollstuhl gezwungen ist? Welche Gefühle werden dadurch ausgelöst, dass er seine Beine nicht bewegen kann? Wenn für ein Gruppenfoto, wie etwa bei dem Bild „Lifestile“, sich die Mitmenschen hinabbeugen müssen, stellt sich mir die Frage, was kommuniziert ein so entstandenes Bild, indem es hier auch eine besondere Körpersprache dokumentiert? Wie wirkt dieser Umstand fort in der Wahrnehmung der Betrachter? Oft scheint es, als würde ich mit meiner Situation andere daran erinnern, wie zerbrechlich der menschliche Körper ist und wie defizitär wir alle sind. Die Illusion eines selbstbestimmten Lebens, das wir ganz und gar in der Hand haben, ist wichtig für das tägliche Leben, aber die Personen in meinen Bildern setzen oft eine solche Illusion außer Kraft. Sie sind normal im besten Sinne, waren aber trotz allem offensichtlich nicht vor einem harten Einschnitt in ihrem Leben gefeit.

Für viele Menschen ist ebenfalls nicht selbstverständlich, wie auch ein verletzter Körper, ein gebrochener Körper,sexuelle Anziehungskraft besitzen kann. Wir sprechen es Menschen mit einer derartigen Besonderheit durchaus nicht ab „trotzdem“ ihren Körper zu zeigen. Aber warum denn überhaupt dieses „trotzdem“? Natürlich weil wir wissen, dass der immer wieder auftauchende Satz „Was bedeutet eigentlich normal?“ hier schon sehr klar beantwortet werden kann. Die Frau in dem Bild „A Girl and two Men on the Beach“ ist es ganz sicher nicht. Aber sie zeigt selbstverständlich ihren Körper und geht scheinbar offen mit ihrer weiblichen Sexualität um. Sie scheut nicht den möglichen Anstoß mit ihrer Andersartigkeit. Die Soziologin Ilse Mehnert hat sich in einer wissenschaftlichen Abhandlung mit diesem stark tabuisierten Thema auseinandergesetzt. Die Schrift mit dem Titel „Mancophilie“ untersucht die sexuelle Faszination, die ein Mensch mit einer körperlichen Einschränkung wie etwa einer Amputation oder einer Querschnittlähmung, auf einige Menschen ausübt. Auch andere bekannte Soziologen haben sich mit Themenschwerpunkten befasst, die in meinen Bildern eine Rolle spielen. Erving Goffman etwa hat in seinem Buch „Stigma“ breit ausgeführt, wie sich parallele Gesellschaften bilden, die sich durch ein Stigma wie einer Behinderung definieren und wie sie sich eigene Symbole, Normen, Werte und Soziolekte schaffen. Von einer solchen Parallelgesellschaft und ihrer Berührung mit der „normalen Welt“ handeln meine Bilder. Sie stellen neu die Frage nach einem Blick auf den versehrten menschlichen Körper. Sie fordern auf zum Ansehen, sie fordern auf zum sonst so schamhaft verstohlen Hinsehen. Ja, sie erlauben sogar das Starren. Warum nicht? Das Bild ist nicht Realität, selbst wenn es mit ihr zu tun hat, es weist über sich selbst hinaus und schafft dabei eine Überwindung von Grenzen und Barrieren, die zu aller erst in unserm Geist existiert.

Eric Beier
Dresden, April 2014